Ich bin wirklich verzaubert von diesem wunderbaren Anblick. Der grüne Rasen glänzt wie ein Smaragdteppich und sein Kontrast zu dem leuchtenden, weißen Marmor und zu dem strahlenden Himmel wirkt sehr suggestiv. Ich entscheide mich, alle die Wunder dieses Platzes entdecken zu gehen.
Als erstes setze mich aber auf den Rasen und genieße den Gesamteindruck: die Bauten stellen im christlichen Sinn die wichtigsten Stationen des menschlichen Lebens dar. Das Baptisterium (Taufkirche) die Geburt, der Dom ist Symbol des Wachstums des Menschen in seinem Glaube, dessen Höhepunkt der Turm ist. Dass er schief steht, ist „reiner Zufall“, könnten wir denken, aber es sagt vieles darüber aus, in welche „Richtung“ wir wachsen... Für das Ende des Lebens auf dieser Erde steht der Camposanto, der Friedhof.
Es sind hier nicht nur viele Touristen, die sich in den witzigsten und oft blödesten Positionen mit dem Turm fotografieren lassen, sondern auch viele Studenten. Man erkennt sie sehr einfach. Zumindest die zukünftigen Künstler: sie sitzen wie ich auf dem Boden, sie haben ihren riesigen Zeichenblock dabei und machen ihre Skizzen von den Monumenten. Sie müssen sehr geduldig sein, denn die Touristen nehmen keine Rücksicht auf sie oder ihre Arbeit.
Ich stehe auf und kontrolliere ob ich etwas liegen gelassen habe. Dann gehe langsam zu dem Schalter. Ich löse ein Kombi-Ticket, womit ich alle vier Bauten besichtigen kann. Die Dame hinter dem Glasfenster erklärt mir (wie sie es schon tausend Mal gemacht hat), dass den Turm nun nur bestimmte Anzahl von Personen betreten dürfen und deswegen muss ich bitte die Uhrzeit auf meinem Ticket respektieren. Ich verspreche es ihr und ich bedanke mich.
Der Wunderplatz ist wegen den Turm bekannt. Einem ist bewusst, das es dort außer diesem auch der Dom steht und vielleicht auch die Taufkirche. Aber ich glaube dass nicht so viele nachdenken, dass hinter der weißen Marmorwand auch etwas Interessantes zu sehen ist. Deswegen ist dieses Monument am wenigsten besucht. Besser so. Die Masse würde sicherlich viel von seiner Atmosphäre wegnehmen.
Die Ausstattung ist ähnlich wie die bei einem Kreuzgang. Alles ist aus Carrara-Marmor und oft muss man einem Weg folgen und hinter den roten Seilen bleiben, damit man nicht auf über die Reliefs der Grabmäler läuft. Auch die leisesten Schritte widerhallen und man redet auch ganz leise. Es ist schön, dass man noch Respekt für etwas hat. In diesem Fall, für die verstorbenen Pisaner, einst die einflussreichsten Persönlichkeiten der Stadt. Man erzählt, dass die Erde des Friedhofes von dem Heiligen Land hierher transportiert worden wäre und dass diese Erde den Körper sehr schnell „auffressen würde“... Mich beeindruckt aber auch die Öllampe in der Aulla-Kapelle. Bewegung soll für Galilei die Inspiration gewesen zu sein mit dem Pendel zu experimentieren.
In diesem Moment schaue ich auf die Uhr und sehe, dass nur noch 5 Minuten bis zu meinem Termin am Turm fehlen und beschleunige meine Schritte. Ich muss trotzdem für einige Minuten in der Schlange stehen, aber dann beginnt der Marsch auf den Treppen. Ich beginne die Stufen zu zählen, aber ich verliere bald den Faden. Es wird mir ein wenig schwindlig auf der Wendeltreppe mit der Neigung, was sich beim Steigen komisch anfühlt. Ich muss auch Schritt halten, denn alles ist so eng. Endlich komme ich aber oben an und die Sicht lässt mir alles andere für einen Moment vergessen. Aus offensichtlichen Gründen müssen mehrere Personen an der höheren Seite stehen. Trotzdem schaffe ich es meinen Platz zu tauschen und mein Magen drückt sich zusammen, als ich hinunter schaue, obwohl ich keine Höhenangst habe. Ich stelle mir vor wie Galilei von hier seine verschiedenen Gegenstände fallen ließ und immer näher an die Schwerkrafttheorie kam. Das Volk war von ihm fasziniert und erschrocken zugleich. Wer ihn beobachtete, dachte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat...
Ich gehe dann weiter und versuche mir kein Anzeichen vom Stendhal-Syndrom anzumerken. Ich stehe vor dem Dom. Nun lese ich keinen Reiseführer mehr. Ich habe bereits genug gelesen und jetzt lasse ich die Atmosphäre des Domes auf mich wirken. Alles ist so feierlich, so ausgewogen. Der Bodenbeleg, die Dekoration, die hölzerne, bemalte und vergoldete Kassettendecke mit dem riesigen Medici-Wappen in der Mitte zeigt auf, wessen Projekt der Neubau der Kirche gewesen war. Wie sah die Basilika vor dem Brand im 16. Jahrhundert wohl aus?
Ich stelle mir den Bau einer Triumphkirche vor, die erste romanische Kirche von diesen Ausmaßen in ganzen Europa. Sie gab der damaligen Welt bekannt, wie das christliche Pisa über die Araber und damit über das Heidentum triumphiert hatte. Damals stand der Platz noch praktisch am Meer und war von weit aus zu sehen. Ich berühre die massiven, glatte Granitsäulen in der Nähe des Apsis und denke an das Blut und Leid was sie gekostet haben können: sie standen einst in der Moschee von Palermo, bevor Pisa sie der Erde gleich gemacht hatte. Kriegsbeute. Ein Stück von den Besiegten in „uns“ einzubauen, damit sie Teil von uns werden...
Ein der bekanntesten und mit Recht ein der meist bewunderten Stücken der europäischen Kunstgeschichte ist die Kanzel von Giovanni Pisano Anfang des 14.Jahrhunderts. Ich verliere wieder den Sinn der Zeit, da ich mir für jedes Detail der Reliefs Zeit nehme. Ich denke, dass Giovanni das selbe gemacht haben könnte, mit der Kanzel des Baptisteriums, welche sein Vater eine Generation vor ihm geschaffen hatte. Ich bleibe noch lange sitzen. Die Touristen kommen und gehen an mir vorbei, bis die Neugier siegt: mir fehlt nur noch das Baptisterium, um alle Wunder des Wunderplatzes gesehen zu haben.
Diese Planung wollte sagen: nachdem man durch die Taufe in die „Familie“ Christi aufgenommen wurde, konnte und musste man weiter ins Haus Gottes. Ich mache es aber umgekehrt, bin jetzt nur ein Tourist...
Es ist erstaunlich, wie alle die Maßen und Details der Gebäude ausgewogen sind und wie die Harmonie des Platzes in diesen Kleinigkeiten liegt! Das Baptisterium hat zum Beispiel den selben Durchmesser, wie die Breite der Fassade des Domes und seine vier Bronzetore öffnen sich in die vier Himmelsrichtungen. Heute ist das östliche Tor der einzige Eingang, in Richtung Dom.
Das Innere erinnert mich an das Baptisterium von Florenz. Dieses hier ist aber viel heller auch breiter, denn diese ist die größte Taufkirche von ganzen Italien. Sie ist ebenso voll von Symbolik, wie der gesamte Platz. Beim Herumgehen berühre ich jede kühle Marmorsäule; es sind 12, genau wie die Apostel. Aber die Ausstattung des Taufbeckens, die Stufen worauf es steht, jede Kleinigkeit hat eine symbolische Bedeutung.
Ich bin fasziniert von der Einfachheit des Inneren, was die Schönheit und Genialität der Kanzel so hervorhebt. Ich beobachte auch hier lange die Szenen von Nicola Pisano und ich versuche mir vorzustellen, wie es sich anhören konnte, als der Priester von hier seine Predigt gehalten hatte. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Akustik hier besonders gut ist und dass das Echo einem Orgelton ähnelt. Ich muss es ausprobieren!
Ich warte geduldig, bis ich in der Kirche alleine bleibe. Dann singe ich mir eine Zeile eines Weihnachtsliedes vor, welches ich noch von der Kindheit kenne. Ich singe laut und ohne Scham und halte die letzte Silbe länger aus. Dann lausche ich. Es funktioniert! Schade, das ich keine begabte Sängerin bin, das Baptisterium hat aber aus meiner Stimme das Beste herausgeholt!